Am 13. Juni sendete das Gesundheitsministerium ein Eilschreiben an die Ärztekammer in Istanbul und informierte diese über die Einleitung einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung gegen die Ärzte und das medizinisches Hilfspersonal, die ehrenamtlich die Protestierenden medizinisch versorgten. Ferner forderte das Gesundheitsministerium von der Istanbuler Kammer die Preisgabe der Namen der behandelten Protestierenden. Dagegen protestierte die Ärztekammer am 14. Juni: die Ärzte haben einen Eid auf Hippokrates nicht aber auf den Staat abgelegt. Die Unabhängigkeit der medizinischen Versorgung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Sie garantiert die medizinische Versorgung unabhängig von politischer Zugehörigkeit für alle Bürger. Die medizinische Versorgung der Protestierenden ist nicht nur vom internationalen Menschenrecht geschützt. Das Einleiten eines Strafverfahrens gegen die Mediziner wegen ihrer medizinischen Unterstützungsleistungen ist auch nach Maßgabe des internationalen Menschenrechts ein gravierender Fall!
Die medizinische Versorgung und Betreuung der Protestierenden war von Anfang an ein zentrales Problem. Viele Protestierende litten unter starker Atemnot durch den massiven Einsatz an Tränengas, wurden am Kopf oder im Brustbereich verletzt, weil nach zahlreichen Augenzeugenberichten beim Abschuss der Tränengasgranaten oftmals nicht in die Luft sondern direkt auf die Protestierenden gezielt wurde. Zwischen dem 31. Mai und 14. Juni starben nach Mitteilung der Ärztekammer der Türkei vier Menschen. 55 Personen sind schwer verletzt, wovon vier noch immer in Lebensgefahr schweben. 91 Protestierende erlitten ein Hirntrauma, zehn verloren ein Auge und einer Person musste die Milz entfernt werden. Insgesamt suchten rund 7.500 Personen um erste Hilfe nach. Diese Angaben ergeben längst kein vollständiges Bild. Ausführlichere Informationen dazu kann man auf den Seiten der Turkish Medical Association (TTB) finden.
Die Toten:
- Mehmet Ayvalitas – 20 Jahre alt – starb als ein Taxi in die Protestierenden fuhr. Abullah Cömert – 22 Jahre alt – starb in Hatay an seinen Verletzungen in Folge einer Tränengasgranate, die ihn am Kopf traf.
- Ethem Sarisülük – 26 Jahre alt – wurde in Ankara von einem Polizisten erschossen. Anderen Angaben zufolge starb er in Folge seiner Verletzungen durch eine Tränengasgranate am Kopf
- Irfan Tuna – 46 Jahre – starb in Folge eines Herzinfarktes in Ankara. Noch ist die Untersuchung nicht abgeschlossen, ob dieser eine Folge von Tränengas ist oder nicht.
- Mustafa Sari – ein Polizist – starb als er bei der Verfolgung von Protestierenden von einer Brücke fiel.
Zur Behandlung der Protestierenden hatten Ärzte, Medizinstudenten und medizinisches Hilfspersonal in den ersten Tagen schnellstens versucht, medizinische Versorgungszentren auf dem Gezi Park und an einigen zentralen Punkten aufzubauen. Es gab eine unglaubliche Solidarität auch von Seiten der Apotheken, die kostenlos Medikamente bereitstellten. Die medizinischen Teams arbeiteten Tag und Nacht bis an den Rand der Erschöpfung.
Der Aufbau von medizinischen Versorgungsstrukturen stellte eine große Herausforderung dar, denn diese mussten an einem vor Polizeiübergriffen möglichst sicheren Ort aufgebaut werden. Es herrschte zu Beginn ein ziemliches Durcheinander, bis eine stabile Struktur an Erste Hilfe Stationen aufgebaut war. Da die Proteste spontan und nicht organisiert entstanden, dauerte es, bis eine koordinierte medizinische Versorgung möglich war. Vor allem war es aber problematisch, dass die Polizei versuchte, die Erste Hilfe Stationen zu stürmen. Ich selbst war Augenzeugin, wie medizinische Notlager von Übergriffen der Polizei bedroht wurden und mitten in der Nacht Hals über Kopf ihr frisch errichtetes Lager wieder räumen, ein Ausweichlager suchen und aufbauen mussten. Die Mediziner, die auf den Strassen arbeiteten, um akute Fälle zu behandeln, waren dabei wie die Protestierenden selbst vor Verletzungen nicht geschützt. Aber auch die Notlager waren nicht vor Übergriffen sicher. Nach Angaben der Ärztekammer wurde ein Lazarett in Ankara angegriffen. Auf das Versorgungszentrum im Gezi Park wurden in der Nacht vom 12. Juni allein fünf Gasbomben geworfen.
Ein Problem stellte auch der Schutz der Verletzten vor strafrechtlicher Verfolgung dar. Wer sich an staatliche Gesundheitseinrichtungen richtete oder den Notarzt über den Notruf anforderte, riskierte, dass die personenbezogenen Daten an die Polizei weitergereicht wurden. Dies wiederum birgt das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung. Was sonst könnte der Grund sein, dass das Gesundheitsministerium jetzt die Preisgabe der Namen der behandelten Protestierenden fordert. Nicht nur die Gesundheit sondern die Identität der Protestierenden musste also geschützt werden. Per Notruf einen Krankenwagen zum Abtransport von schwer Verletzten ins Krankenhaus zu rufen, stellte damit schon ein Problem dar. Man musste alternative Versorgungsstrukturen aufbauen, die vor weiteren Repressionen schützten.
Ich selbst war aber auch Zeugin von unterlassener Hilfeleistung durch den öffentlichen Gesundheitssektor. Nach einem sehr heftigen Tränengaseinsatz, von dem ich selbst auch betroffen war, stieg die Zahl der Protestierenden an, die aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen nicht mehr in dem Lazarett auf dem Gezi Park versorgt werden konnte. Eine Protestierende rief daher den Notruf an und forderte mehrere Notarztwagen. Dennoch passierte lange nichts. Ihr wurde auf erneuten Anruf fast schon hämisch mitgeteilt, man könne den Gezi Park ja nicht anfahren, weil die Zufahrt durch die Barrikaden der Protestierenden versperrt sei. Wir überprüften dies eigenständig und informierten erneut, dass dies nicht den Tatsachen entspreche und die Zufahrt möglich sei. Dennoch kamen die Notarztwagen erst sehr verspätet.
Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass das Ausmaß der Gewalt durch die Polizei in keiner Weise verhältnismäßig war. Auch wenn von vereinzelten Protestierenden möglicherweise Steine geschmissen wurden. Auf dem Gezi Park und dem Taksim Platz, in Ankara und in vielen Städten der Türkei protestierten Hunderttausende von Menschen. Der massive Einsatz von Tränengas, gezielt auf Kopf und Brust der Protestierenden ist mit nichts zu rechtfertigen. Vielmehr führte dies zu einer unglaublichen Anspannung unter den Protestierenden. Hinzukommt das Verhalten der Regierenden und lokalen Verantwortlichen. Die aggressiven, erniedrigenden und auf „Sieg“ setzenden Äußerungen des Ministerpräsidenten, die widersprüchlichen Äußerungen des Gouverneurs von Istanbul, der an einem Tag angeblich die Protestierenden kennenlernen möchte, um im nächsten Moment mit Räumung des Gezi Parkes innerhalb von 24 Stunden zu drohen. Das politisch unverantwortliche Verhalten der Verantwortlichen in Politik und Sicherheitsapparat war das Gegenteil einer Strategie der Deeskalation.
So sehr es zu begrüssen ist, dass die Regierung letztendlich doch mit den Protestierenden verhandelt. So bedenklich ist dennoch, dass just am gleichen Tag Ermittlungen gegen die Ärzte eingeleitet und einige Protestierende der links-politischen Partei SDP dem Richter vorgeführt werden. Es erweckt den Eindruck, dass die Regierung die Proteste beenden möchte, aber die Zeichen der Zeit immer noch nicht verstanden hat: die Aufstände in der Türkei sind letztlich ein Aufstand gegen Autoritarismus. Sie mögen in diesen Tagen beendet werden. Aber in weiten Kreisen entstand ein Selbstbewusstsein, dass man sich gegen diesen Autoritarismus wehren muss und kann.
Aktuellen Informationen zufolge verlautbarte der Gesundheitsminister nun, dass doch keine Klage gegen die Ärzte erhoben werde. In ihrer Freizeit seien sie frei, das zu tun, was sie für richtig hielten. Hoffen wir, dass diese Information stimmt.
Insgesamt zeigt sich, dass die Regierung große Mühe hat, sich mit dieser neuen Situation an Protestbereitschaft zurechtzufinden. Immer wieder versucht sie zunächst die harte Linie zu fahren, um dann dem Druck der Strasse doch nachzugeben.
Das ist ein Riesenerfolg der Protestierenden!